Wir wissen nicht, ob Friedrich Merz jeden Morgen in den Spiegel schaut und sich sagt: Du wirst Kanzlerkandidat. Heute hat er auf jeden Fall in den „Spiegel“ geblickt – und zwar in das Magazin: Die Hamburger haben dem CDU-Chef ihre Titelgeschichte gewidmet. Der Tenor: Eigentlich läuft alles auf ihn als Kanzlerkandidaten hinaus, aber sein Temperament und sein Charakter könnten ihm noch einen Strich durch die Rechnung machen.
Und dann kamen da noch die großen Interviews von Daniel Günther und Hendrik Wüst von diesem Wochenende, in denen die beiden zwar nicht Merz frontal angegriffen haben, doch klar signalisierten: Wir sind die Wortführer des liberalen Flügels und wollen auch künftig mitzureden haben.
Der „Spiegel“ erklärt in seiner Geschichte nur indirekt den Grund für seine Story: Merz wird als Mann gezeichnet der liebesbedürftig ist, der Zuspruch braucht, der respektiert werden will und der dann, wenn er denkt, all das werde ihm verwehrt, zu emotionalen Kurzschlusshandlungen neigt. Es ist klar: Die anonymen Zuträger, deren Anekdoten über die Macht-Mimose Merz das Hamburger Magazin ausbreitet, wollten genau so einen Merz-Moment provozieren. Und damit beweisen, dass er es doch nicht kann.
Zehn Minuten Applaus für Friedrich Merz
Die Taktik ist nicht aufgegangen. Ob Merz sich gefreut hat, als er am Montagmittag die stehenden Ovationen der über 800 Delegierten im Berliner Hotel Estrel entgegennimmt? Die CDU ist keine emotionale Partei, nicht so wie die SPD, bei der irgendwie immer eine Träne im Knopfloch steckt, direkt neben dem Parteiabzeichen. Die Union ist eine Machtmaschine. Loyalität gilt dann einem Vorsitzenden, wenn er seiner Gefolgschaft den Zugang zur Macht sichert.
Zuneigung wird in diesem feudalistischen System durch die Dauer der Standing Ovations ausgedrückt, es ist ein Treueschwur. Ziemlich genau zehn Minuten wurde Merz applaudiert, damit ist er noch nicht im Kohl-Universum, aber das ist ordentlich. Ein klares Bekenntnis der Parteibasis gegenüber ihrem Lehnsherrn: Wir trauen dir, Friedrich, zu, dass du uns wieder zurück an die Fleischtöpfe der Macht führst.
Es ist aber natürlich ein Vertrag auf Gegenseitigkeit. Sollte die Union bei den kommenden Landtagswahlen scheitern, dann würde auch die Ära Merz nur zu einer Episode der Parteigeschichte. Der meiste Applaus während der Grundsatzrede des Parteivorsitzenden brandet denn auch auf, als Merz die Siegesgewissheit beschwört.
Merz streichelt die Seele der Partei
Vorher hat er die Seele der Partei gestreichelt: Merz, der bald 70 wird und sein ganzes erwachsenes Leben in dieser Partei verbracht hat, weiß, was die Herzen von Christdemokraten höher schlagen lässt. Er kennt die Erwartungen an ihn: Etwas Grundsätzliches, aber nichts, was die Partei an alte Flügelkämpfe zwischen konservativ und liberal erinnern darf. Es muss ein Unterschied zu den anderen Parteien erkennbar werden, darf aber nicht gesellschaftliche Spaltungen offenbaren. Also, Hände weg, vom Kulturkampf, so die taktische Devise. Kein Satz zum sogenannten Selbstbestimmungsgesetz, nichts zur Rettung des Paragraphen 218.
Dafür ein Bekenntnis zu einem Leitmotiv: Freiheit. Merz setzt sich passend zu den zentralen Passagen im neuen Grundsatzprogramm als Freund der Freiheit in Szene. Er dekliniert den Begriff wirtschaftlich runter: Privat vor Staat, Leistung muss sich lohnen, Eigenverantwortung statt Nanny-Staat. Dann stellt Merz Freiheit und Sicherheit in Beziehung. Er warnt drastisch von den Gefahren des politischen Islamismus, klammert aber auch nicht den Rechts- und den Linksextremismus aus.
Und dann geht es schließlich im längsten Teil seiner Rede um Außenpolitik – auch das ist wohl als Beleg für seine Kanzlertauglichkeit zu deuten. Putin sei der Feind nicht nur der Ukraine, sondern des ganzen freien Europas. Und die Feinde dieser Freiheit im Inneren benennt er auch mit drastischen Worten: die AfD. Man werde sich mit ganzer Kraft dem „Kampf“ gegen diejenigen widmen, die „unsere Werte, unser Europa“ zerstören wollten.
Die drei Herausforderungen der CDU
Und mit Blick auf die Landtagswahlen formuliert er: „Es ist unsere Partei, die im Osten die Kraft, die Entschlossenheit hat, sich diesen Leuten entgegenzustellen.“ Und auch russlandfreundlichen Linkspopulisten, damit ist wohl das BSW gemeint, erteilt er eine klare Absage. Bei diesen Beschwörungen brandet bei den Delegierten regelrecht Jubel auf.
Es sind drei große Herausforderungen, die sich der CDU langfristig stellen: Einmal muss sie als demokratische Partei das politische Spektrum rechts der Mitte abdecken. Dann will sie, hier die letzte ihrer Art, als Volkspartei die Breite der Bevölkerung abbilden. Und dann schließlich verpflichtet das „C“ im Namen dazu, im Sinne des christlichen Menschenbildes gesellschaftspolitisch Flagge zu zeigen.
Jede dieser Aufgaben ist schon für sich genommen groß, sind sie aber überhaupt noch gleichzeitig zu lösen? Oder muss die Union sich wohl oder übel für eine zentrale Aufgabe entscheiden – und die anderen, wenn vielleicht auch nicht völlig aufgeben, so doch mindestens zur Seite schieben? Nach außen hin tut die Union immer noch so, als ob sie diese drei Ebenen, so wie in den starken Phasen ihrer Geschichte, gleichzeitig bespielen könnte. Und tief in ihrer Seele will sie darüber auch nicht streiten, sondern lieber dieser alten Illusion weiter nachhängen.
Merz ist dieser Gefühlslage gut entgegengekommen. „Freiheit“ als zentraler Wert ist der kleinste gemeinsame Nenner und angesichts der Bedrohungen von innen und außen hoch aktuell. Die Delegierten lohnen es ihm bei der Wahl zum Parteivorsitzenden. Er bekommt knapp 90 Prozent. Beim letzten Mal waren es noch fast 95 Prozent.
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