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"Wir wollen das gängige Kafka-Bild nicht weiter bedienen"

Ein Gespräch mit dem Heidelberger Literaturwissenschaftler und Kafka-Herausgeber Roland Reuß über eine Kafka-Lektüre jenseits der Klischees. 
Franz Kafka und seine Schwester Ottilie
Foto: IMAGO/No Byline (www.imago-images.de) | Ein gut gelaunter Kafka, hier mit seiner Schwester Ottilie, geht gegen unsere Erwartungshaltung.

Herr Reuß, Franz Kafkas Werk ist in vielerlei Hinsicht spröde, komplex und unnahbar. Und dennoch lässt sich Kafka offenbar weltweit sehr gut vermarkten. Wie geht das beides zusammen?

Da sind verschiedene Faktoren am Werk. Zum einen scheint es, als würden Kafkas Werke das Angebot machen, sich in eine Opfervorstellung hineinzubegeben: Da gibt es anonyme Mächte und ein Subjekt, das von diesen heimgesucht und unterdrückt wird. Ich denke zwar, dass dieses Bild zu korrigieren ist, aber so zumindest läuft die Rezeption im 20. Jahrhundert. Die zweite Sache, die eine Rolle spielt, ist die Fotografie. Die größere Rezeption Kafkas beginnt ja nach dem Zweiten Weltkrieg, ausgehend von den USA und den von Max Brod herausgegebenen Ausgaben. Seitdem haben wir eine extreme Fixierung auf die Person Franz Kafka, die geprägt ist durch die vielen Schwarzweißfotografien von ihm. Da ist dieser lange Lulatsch, der hagere Typ, der aber sehr kluge Augen hat. Ergänzt wird das Bild durch die klischeebestärkenden Schwarzweißfotografien von Prag. Wir haben mit unserer historisch-kritischen Ausgabe einen ganz anderen Ansatz gewählt – auch in der Ästhetik. Wir wollten die modernen Seiten Prags, das ja auch eine kubistische Hauptstadt ist, aufgreifen und mit dem Cover unserer Ausgabe gleich zeigen, dass wir dieses Kafka-Bild des düsteren, deprimierten Autors nicht weiter bedienen wollen.

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Sie sagten, die Opferrolle, die Kafkas Texte dem Leser scheinbar darböten, gelte es infrage zu stellen. Inwiefern?

Ja, die Identifikation läuft oft über die Opferrolle. Aber im Prinzip sind die Leute, die Kafka etwa im "Process" oder im "Schloss" darstellt, allesamt verlogen. Und man muss viele Warnsignale übersehen, um sich mit diesen verlogenen Subjekten partout identifizieren zu wollen.

Könnten Sie das an einem Beispiel erläutern?

Die klarste Darstellung dieser Verlogenheit ist das sogenannte Prügler-Kapitel aus dem "Process". Dort heißt es, dass der Protagonist K. eines Abends den Korridor zwischen seinem Büro und der Haupttreppe passierte. Dort stößt er auf eine Tür, hinter der er Seufzer hört. Er betritt den Raum und sieht, wie ein Sado-Maso-mäßig angezogener Mensch die zwei sogenannten Wächter, die ihn vorher verhaften sollten, schlägt. Er hat aber nicht das Bedürfnis, einzuschreiten. Er will auch keine Hilfe rufen, sondern er hat im Gegenteil Angst, dass jemand außen hört, was da drin passiert. Und dann eskaliert diese Situation, weil sie anfangen, lauter zu werden, und schließlich fängt K. an, Gewalt zu gebrauchen, damit sie stillbleiben. Das heißt: Er partizipiert aktiv an diesem sadomasochistischen Apparat, und zwar aus Angst, dass dieser Zusammenhang ruchbar wird. Das ist eine klare symbolische Leseanweisung, dass man K. nicht einfach nur als den armen, verfolgten Kerl verstehen darf, sondern als ein funktionierendes Rädchen im Zusammenhang der obstruktiven Verhältnisse, die dort geschildert werden. Wenn wir über diese Texte nachdenken, geht es ganz wesentlich darum, wie mithilfe von Sprache Wirklichkeiten geschaffen werden und dass Sprache auch ein Machtinstrument ist. Es geht um den Gebrauch der Sprache und die Frage, wie ich Sachverhalte indirekt durch die Darstellung kritisiere – also nicht, indem ich sie explizit kritisiere, sondern indem ich sie so vorführe, dass jeder selber sehen kann, was das Problem ist.

Sperren sich die Texte Kafkas durch diesen Sprachgebrauch auch gegen die Verbildlichung?

Ja, klar. Ich gebe ein Beispiel, an dem man das gut erkennen kann. In der "Verwandlung" hat Kafka viele Leute – darunter auch Vladimir Nabokov – in die Irre geführt. Viele haben nämlich versucht, herauszubekommen, in was genau sich Gregor Samsa eigentlich verwandelt hat. Die einzige explizite Charakterisierung, die wir finden, ist die Selbstbeschreibung Gregor Samsas, dass er sich eines Morgens in ein "Ungeziefer" verwandelt fühlte. Alles, was danach folgt, hat im Grunde das Ziel, die Assoziation mit einem Käfer zu vernichten. Deswegen haben wir einen Käfer, der blutet, was Käfer nicht machen; wir haben einen Käfer, der Nüstern hat, was Käfer nicht haben. Und trotzdem gibt es diese verdinglichende Aneignung, die dazu führt, dass selbst jemand wie Nabokov anfängt, in einem Insektenführer nachzuschauen und zu überlegen, was das jetzt eigentlich für ein Käfer gewesen sein könnte. Das heißt, alles, was man verfilmen kann, verfehlt im Prinzip die Sache, die bei Kafka geschrieben steht.

Es ist typisch für die heutige mediale Berichterstattung, sich Literatur biografisch erschließen zu wollen. Inwiefern ist das im Fall Kafkas gerechtfertigt?

Die ganze Debatte, ob der Autor eigentlich nur ein Konstrukt des Literaturbetriebs ist, stammt aus einer ganz bestimmten französischen Kulturtradition, in der Autorschaft als Institution und soziale Konstruktion gedacht wurde. Natürlich haben die Texte, selbst wenn man sie als Flaschenpost irgendwo am Meer fände, eine Bedeutung, die völlig unabhängig davon ist, ob wir wissen, wer das geschrieben hat. Es ist ja gerade eine Aufgabe der Literaturwissenschaft, Kriterien zu entwickeln, wie man so etwas interpretieren kann, selbst wenn keine biografischen Daten vorlägen. Man kann aber nicht sagen, dass jede biografische Bezugnahme unsinnig oder verboten ist, um einen Text interpretatorisch zu verstehen. Das ist genauso unsinnig wie die umgekehrte Maximalthese, der zufolge man überhaupt nichts verstehen kann, wenn man Kafkas Werke nicht biografisch interpretiert. Diese beiden Extrempositionen sind problematisch, weil sie die Phänomenalität von Kafkas Nachlass verfehlen. Man muss bedenken, dass Dreiviertel der Kafka-Überlieferung aus Handschriften besteht. Eine Handschrift eines Autors, also ein Autograph, ist immer auch eine individuelle Lebensspur. Ein Beispiel: Wir edieren gerade die Quarthefte (das sind im Prinzip große Schulhefte) sieben und acht. In diesen geht es auch um die Berliner Verlobung mit Felice Bauer. In dieser Zeit gibt es eine sehr stark affektive Bindung an eine Freundin von Felice Bauer namens Grete Bloch, die Kafka irgendwie noch interessanter gefunden zu haben scheint. Und dann sieht man, dass er in seinen Aufzeichnungen zu Zensurmaßnahmen greift, wenn er an "Fräulein Bloch" denkt. So schreibt er zum Beispiel "Gestern Brief an Frl. Bloch" und streicht dann das "Frl." durch. Diese Sachen sind literarisch interessant, aber sie sind natürlich auch biografisch grundiert.

Roland Reuß
Foto: Universität Heidelberg | Roland Reuß gibt zusammen mit Peter Staengle die Historisch-Kritische Edition von Kafkas Werken heraus.

Sie sind Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe. Darin werden die handschriftlichen Manuskripte Kafkas Seite für Seite als Faksimile reproduziert und samt allen Einschüben und Streichungen transkribiert. Damit können Sie das performative Moment seines Schreibens sichtbar machen. Inwiefern unterscheidet sich Ihre Ausgabe noch von den sonst gängigen Editionen?

Max Brod (der erste Herausgeber, Anm. d. Redaktion) hat das Werk Kafkas im Prinzip zerschlagen: Es gibt bei ihm die Romanproduktion, die Produktion von Erzählungen, die Produktion von Tagebüchern, und es gibt Briefe. Aber diese ganzen Gattungen stimmen bei Kafka so nicht, weil wir Hefte haben, in denen alles Mögliche durcheinander steht. Beispielsweise haben wir die Eingangspassagen zu dem, was dann der "Verschollene" heißen wird, in einem Quartheft, in dem auch noch 1000 andere Sachen drinstehen: Notizen über Vorträge, die er besucht hat, Erzählansätze, aber auch einfach Listen, was er noch kaufen will und so weiter. Das heißt, diese Art der Überlieferung ist überhaupt nicht in eine Gattungsperspektive zu bringen, weshalb wir damit gebrochen haben.

Wollte Kafka nicht ohnehin, dass Max Brod sein Werk vernichtet? 

Das ist alles viel schwieriger. Es gibt zwei sogenannte Testamente und beide sind mit Doppelbotschaften verbunden. Es gibt etwa einen Zettel, in dem gesagt wird: "Du hast die Aufgabe, alles, was du in meinem Schreibtisch und sonst findest, ungelesen zu vernichten." Dieser Aufforderung kann Brod schon in dem Moment, in dem er diesen Zettel liest, gar nicht mehr Folge leisten. Er kann diese Information ja nur dadurch erhalten, dass er sie liest. Das ist also die paradoxe Situation, die im Prinzip dem Gegenüber die Verfügung und die Verantwortung aufzwingt.

Kann man Kafka überhaupt in einer anderen Edition lesen oder muss, wer Kafka verstehen will, zur historisch-kritischen Ausgabe greifen?

Der Einstieg, sich einem Autor anzunähern, ist eigentlich egal, selbst wenn er vereinfachend ist. Ich gehe zum Grabbeltisch, hole mir irgendeine Ausgabe und fange an, mich einzulesen. Das heißt, ich erzeuge ein allgemeines, sehr fragiles Vorverständnis. Wenn die Literatur was taugt, dann wird sie automatisch bei Ihnen das Bedürfnis wecken, der Sache auf den Grund zu gehen. Und dann treten Sie noch mal mit einem tieferen Bewusstsein an die Schriften heran und sind froh, wenn es auch noch ein bisschen genauer geht als bei dem, was Sie auf dem Grabbeltisch gefunden haben. Um wirklich genau zu verstehen, was jemand geschrieben hat, muss ich auf die Quelle zurückgehen, und zwar nicht nur bei Kafka, sondern bei jedem Autor.

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